Seit dem Jahr 2008 haben sich interessierte Wissenschaftler in einem offenen Prozess zusammengefunden, um ihr Wissen über die sommerliche Meereisschmelze in der Arktis zusammenzutragen und in einer Vorhersage das sommerliche Minimum der Meereisausdehnung im September zu prognostizieren. Ab 2014 wird der sogenannte Sea Ice Outlook (SIO) (Meereisvorhersage) als Teil des internationalen Meereisvorhersage-Netzwerks („Sea Ice Prediction Networks“, SIPN) organisiert. Das SIPN ist eine Gemeinschaft aus Wissenschaftlern und Stakeholdern mit dem Ziel, ein erweitertes Verständnis des aktuellen Zustandes sowie der Entwicklung des arktischen Meereises zu erzeugen. Aufgrund dessen liegt der Fokus dieser Gemeinschaft in der Kommunikation von Vorhersagen der arktischen Meereisfelder im Sommer und der Meereisausdehnung im Minimummonat September. Die Mitglieder der SIPN Gemeinschaft tragen zu der Erstellung der SIO Berichte bei und ein Projektleitungsteam übernimmt das Management des gesamten Netzwerks, der SIO Berichte und der informativen Ressourcen und Tätigkeiten zur Verbesserung der Vorhersagen. Jeden Juni, Juli und August stellt SIPN Berichte zusammen, deren Aussagen auf aktuellen Beobachtungsdaten bis hin zu fortgeschrittenen numerischen Modellen basieren. Ein Nachsaison-Bericht stellt eine eingehende Analyse der Faktoren zusammen, die die Meereisausdehnung im Sommer beeinflusst haben und gibt einen Überblick über die für die Vorhersagen verwendeten wissenschaftlichen Methoden. „Nach nun neun Jahren der Meereisvorhersage zeigt sich, dass die Meereisausdehnung zum Ende des Sommers in der Arktis in ihrer Tendenz schon recht zuverlässig im Rahmen der Fehlergrenzen vorherhergesagt werden kann“, stellt Dr. Frank Kauker, Mitautor der letztjährigen SIO-Zusammenfassung fest. „Es hat sich aber noch keine Methode als herausragend verlässlich oder gar gegenüber anderen Methoden überlegen gezeigt“, so Frank Kauker. Die SIO für den kommenden Sommer 2017 werden voraussichtlich ab Anfang Juli veröffentlicht.
1. Einführung
Im Folgenden ist eine Zusammenfassung über die im Frühsommer 2016 erstellten Meereisvorhersagen „Sea Ice Outlook“ zu finden. Der Gesamtbericht im Original kann hier in englischer Sprache abgerufen werden. Insgesamt wurden 104 Meereisvorhersagen eingereicht, wovon sich 30 Vorhersagen auf den Monat Juni, 35 auf den Monat Juli und 39 auf den Monat August beziehen. Die Vorhersagen wurden mittels heuristischer, statistischer, gemischter (heuristisch und statistisch) sowie dynamischer (modellbasiert) Methoden erstellt (Abb. 1). Aus allen Methoden wurde ein Median von 4,3 Mio. km² für die Anfang Juni und Anfang Juli gemachten Vorhersagen und 4,4 Mio. km² für die Anfang August gemachte Vorhersage bestimmt. Die tatsächlich beobachtete Septemberausdehnung lag bei 4,7 Mio. km². Die jeweiligen Monatsberichte finden Sie hier. In dem diesjährigen Bericht wurden erstmals Vorhersagedaten für die „Region Alaska“ einbezogen, die das Gebiet der Tschuktschen-, Beaufort- und Beringsee umfasst.
2. Übersicht über die Bedingungen in der Arktis im Jahr 2016
Der arktische Winter und Frühling im Jahr 2016 waren geprägt von hohen Temperaturen und geringer Meereisausdehnung. Mit Ausnahme vom Monat März zeigten die Monate Januar bis Juni jeweils neue Rekordminima der Meereisausdehnung (Rankingwerte in Abb. 2). Die Ausdehnungsanomalie von März im Vergleich zum Vorjahr befindet sich im Messungenauigkeitsbereich. Damit variierten die Anomalien der Meereisausdehnung 2016 zu Vorjahren im Sommer stärker als im Winter und Frühling. Der Herbst wiederum beschreibt Rekordminima der Meereisausdehnung. Die arktische Meereisausdehnung zeigte im Sommer kein neues Rekordminimum (Abb. 2). Wie es zu diesen Bedingungen in 2016 gekommen ist, wird in den folgenden Abschnitten beschrieben. Der Monatsmittelwert für September (Monat des sommerlichen Meereisminimums) zeigte mit einer Meereisausdehnung von 4,72 Mio. km2 im Jahr 2016 wieder einen sehr niedrigen Wert (basierend auf NSIDC Daten; mehr Informationen über den Algorithmus finden sich hier). Verglichen zu Vorjahren, ist dieser Wert der Fünftniedrigste. Der Wert liegt sehr nahe an der langjährigen (1979-2016) abnehmenden Trendlinie. Betrachtet man jedoch den Tag des absoluten Minimums im September, entspricht die Meereisausdehnung dem zweitgeringsten Wert der jemals gemessen wurde (seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen im Jahre 1979). Die Meereisausdehnung lag im September 2016 fast 2 Mio. km2 unterhalb des langjährigen Durchschnitts (1981-2010), jedoch 1,1 Mio. km2 über dem Rekordwert im September 2012.
2a. Die Schmelzperiode im Rückblick
Der Winter und Frühling 2016 in der Arktis waren außergewöhnlich mild. Dies führte zur niedrigsten Ausdehnung im März seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen und einem frühen Beginn der Schmelzperiode in der Tschuktschen- und Beaufortsee Ende April, woraus im Mai eine geringe Meereisausbreitung in den südlichen Teilen der Beaufort-, Bering- und Barentssee resultierte (Abb. 3). Flugzeugmessungen über dem kanadischen Archipel und der südlichen Beaufortsee zeigten, dass das einjährige Meereis außergewöhnlich dünn war (< 2 m). Dies wurde vermutlich durch die warmen Temperaturen im Winter und ein damit verbundenes geringeres Eiswachstum verursacht (siehe Abb. 4). Die beschriebene Entwicklung wurde auch in Barrow, Alaska, anhand von Bojendaten bestätigt. Hier war das an der Küste verankerte Eis (Festeis) weniger als 1 m dick. Dies wird ebenfalls auf das geringe Eiswachstums im Winter und das verfrühten Einsetzen der Schmelze zurückgeführt. Das Meereisvorkommen in diesen Regionen blieb über den Sommer und im Dezember 2016 gering. Ende Mai gab es einen Wechsel in den Wetterbedingungen. Es herrschten kältere und stürmischere Bedingungen über dem Arktischen Ozean während des Junis, die die Eisschmelze verringerten. Das Wetter war während des restlichen Sommers ungewöhnlich - zeitweise sehr kalt - auch wenn es gelegentlich Einbrüche von Warmluft, wie beispielsweise in die Ostsibirische See Anfang August, gab.
2b. Auguststurm
Mitte August befand sich ein starkes und langanhaltendes Tiefdruckgebiet über dem Arktischen Ozean. Der Sturm bewegte sich am 13. August vom sibirischen Kontinent auf den Arktischen Ozean und verblieb dort für einige Tage. Der Druckabfall im Sturmzentrum betrug bis zu 970 hPa bevor sich das Tiefdruckgebiet im späten August auflöste. Dieses Wetterereignis ist vergleichbar mit einem Sturm Anfang August im Rekordminimumjahr 2012. Jedoch war dieser Sturm stärker (966 hPa) und hielt aber kürzer an. Nach Zhang et al. (2013) hat der Sturm im Jahr 2012 günstige Bedingungen für die Schmelze von bereits stark aufgebrochenem Meereis in der Ostsibirischen See geschaffen. Die stürmischen Bedingungen in diesem Jahr fielen mit einem erheblichen Eisrückgang entlang eines schmalen „Meereisarms“ in der Ostsibirische See Ende August zusammen und haben möglicherweise die Eisschmelze in der Nähe des Nordpols begünstigt. Ein weiteres charakteristisches Merkmal des arktischen Sommers 2016 war das schnelle Eiswachstum nach Erreichen des Minimums am 10. September bis zum Ende des Monats – es haben sich 1,12 Mio. km2 Meereis neu gebildet. Das Mittel des Eiswachstums der Jahre 1981-2010 liegt in dieser Zeitperiode bei 0,71 Mio. km2. Das frühe Zufrieren begann in der Beaufort-, Ostsibirischen und Laptewsee. Während des Sturms in der Ostsibirischen See wurde das Eis dort stark aufgerissen. Dadurch konnte sich ab dem 10. August verstärkt neues Meereis bilden, da die Fläche offenen Wassers erhöht war, welche dann bei Frost schnell zufrieren konnte.
2c. Auffällig reduzierte Kompaktheit der Eisdecke im Spätsommer
Obwohl die Meereisausdehnung Mitte 2016 höher war als im Jahre 2012 zur gleichen Zeit, war die Eiskonzentration im Bereich der Zentralarktis geringer (Abb. 5). Eine wichtige Größe zur Charakterisierung der Eisfläche, besonders bei geringer Eiskonzentration, ist das Verhältnis der Meereisfläche zur Meereisausdehnung. Geringe Werte bedeuten, dass es verstärkt offene Wasserflächen (auch Eisflächen mit einer geringeren Konzentration als 15%) gibt, was auf eine reduzierte „Kompaktheit“ hinweist. Genau das charakterisiert die Eissituation in 2016 verglichen zu den Vorjahren (Fig. 5). Berechnete man die Meereisausdehnung mit der gleichen „Kompaktheit“ wie in den Vorjahren, würde die Meereisausdehnung um 0,5 Mio. km2 geringer sein, als sie beobachtet wurde. Wichtig ist es daher die horizontale Verteilung des Meereises zu beschreiben und vorherzusagen (was viele Methoden schon machen), anstatt den Fokus nur auf totale Flächen- und Volumenangaben zu legen, da diese oft nicht das ganze Bild widerspiegeln. Auch das Heranziehen von zusätzlichen Größen (wie hier der „Kompaktheit“) für die Bewertung der Meereisvorhersagen trägt zu einem besseren Verständnis und zu präziseren Abschätzungen bei (Abb. 6). Abbildung 7 zeigt die enge Verbindung zwischen der Eisbedeckung und der Wasseroberflächentemperatur („sea surface temperature“, SST). Die geringe Eisbedeckung im Herbst 2016 (Oktober und November) steht wahrscheinlich mit der starken Erwärmung der oberen Wasserschichten im Sommer in Verbindung. Andererseits spiegeln die hohen Wassertemperaturen im Sommer die Flächen mit geringer Meereisbedeckung im Frühsommer in der Beaufort- und Barentsee wider, da mehr Sonnenlicht absorbiert werden konnte. Der Einfluss der Meereiskonzentration auf die Oberflächenabsorption kann durch das Albedoerwärmungspotenzial („albedo warming potential“, AWP) ausgedrückt werden (Abb. 8).
Die Darstellung des täglichen AWP zeigt, dass die besonders geringe Meereisbedeckung im Frühling die Schmelzphase stark beeinflusst hat. Jedoch hat im Juni der Kälteeinbruch dazu geführt, dass die eisfreien Gebiete sich nicht weiter ausgeweitet haben und sich keine Schmelztümpel bildeten, wodurch das AWP niedrig blieb. Das AWP ist im Juni 2016 deutlich kleiner als im Juni 2010 und 2012. Ab Juli ist die AWP Kurve in 2016 die zweithöchste jemals beobachtete nach dem Jahr 2012. In der kumulativen Darstellung zeigt das ganze Jahr 2016 einen neuen Rekord (Abb. 8). Der Grund warum in 2016 kein neuer Meereisausdehnungsrekord beobachtet wurde ist in der Prekonditionierung im Winter zu suchen.
3. Methoden
Die diesjährigen Meereisprognosen basieren auf 9 heuristischen, 50 statistischen, 4 gemischten, 16 Meereis-Ozean und 26 vollgekoppelte Meereis-Ozean-Atmosphäre Modellbeiträgen (Abb. 1). Vergleicht man die Meereisvorhersagen für September 2016 aller Methoden, unterscheiden sie sich nur um 0,4 Mio. km². Wie dargestellt , hat es seit Beginn des Sea Ice Outlooks im Jahre 2008 eine Verlagerung von quantitativen, heuristischen Methoden zu statistischen und dynamischen Methoden hin gegeben (Abb. 10 links). Die statistischen Vorhersagen basieren auf unterschiedlichen Methoden, angefangen von multiplen linearen Regressionen (vorherige Monaten werden mit einbezogen) über einfache Persistenz der Anomalien Mitte des Sommer bis zu zunehmend komplexeren stochastischen Methoden. Nur wenige Beiträge nutzen andere Variablen als die Meereiskonzentration oder die Meereisausdehnung der Vormonate zur Vorhersage und nur sechs Beiträge nutzen eine größere Anzahl von Variablen.
Die meisten Beiträge benutzen den beobachteten Trend in der Meereisausdehnung zur Vorhersage. Es bleibt weiterhin unklar, welche dieser Vielzahl der Methoden die präziseste Vorhersage zur Meereisausdehnung gibt. Eine Untersuchung der dynamischen Methoden im Hinblick auf die verwendeten Modellkomponenten (welches Ozeanmodell, welches Eismodell oder gegebenenfalls welches Atmosphärenmodell wurde verwendet), dem verwendeten atmosphärischer Antrieb (im Falle von ‚nur‘ Meereis-Ozeanmodellen) und der Benutzung einer nachträgliche Korrektur der vorhergesagten Meereisausdehnung ("bias correction") ergab keine Überlegenheit einer der Untergruppen. Einige dynamische Methoden ziehen Meereisbeobachtungen oder Meereisanalysen zur Initialisierung der Vorhersage heran (Stichwort "Datenassimilierung"). Die dabei verwendeten Methoden (‚Datenassimilierungsmethoden‘) reichen von sehr einfachen bis zu sehr anspruchsvollen Methoden. Andere dynamische Methoden benutzen diese Daten nicht. Im Vergleich dieser zwei Gruppen der dynamischen Methoden zeigte sich eine deutliche Überlegenheit der ersten Gruppe, die Meereisbeobachtungen bzw. Meereisanalysen mit einbeziehen (Abb. 9). Insbesondere der Mittelwert der August Vorhersage der ersten Gruppe trifft die beobachtete Meereisausdehnung sehr gut.
Im Allgemeinen zeigte sich, dass die Vorhersagen der dynamischen Modelle (Meereis-Ozean und Meereis-Ozean-Atmosphäre) sich in guter Annäherung an die Beobachtung der Meereisausdehnung befinden. Detailliertere Vor- und Nachteile der dynamischen Methoden sind hier nachzulesen. Die Vorhersagen basierend auf statistischen Berechnungen sind in diesem Jahr etwas ungenauer als in den Vorjahren ausgefallen, aber man sieht, dass durch den verkürzten Vorhersagezeitraum und die Einbeziehung der Informationen aus Juni und Juli die Vorhersage von Juni bis August immer näher an den beobachteten Wert herangekommen ist. In den diesjährigen Meereisausdehnungsvorhersagen haben die dynamischen Modelle tendenziell im Schnitt niedrigere Werte für die Meereisausdehnung prognostiziert als beobachtet, während im Jahr 2015 höhere Werte als beobachte berechnet wurden. Eine detaillierte Beschreibung der verwendeten Methoden finden Sie auf der Webseite des SIPN.
4. Bewertung der SIO Berichte von 2008-2016
Nach neun Jahren, in denen Meereisvorhersagen ausgeführt wurden, kann Rückschau gehalten werden. Durch einen Vergleich der vorhergesagten Meereisausdehnung zur tatsächlich beobachteten Ausdehnung kann abgeschätzt werden, ob eine Gruppe von Methoden (heuristisch, statistisch, dynamisch oder gemischt) einer anderen Gruppe überlegen ist. Dabei zeigte sich, dass alle Methoden bis auf die gemischten Methoden gleichwertig sind; die Methoden zeigen alle eine ähnliche Verteilung um die beobachtete Meereisausdehnung [mehr Informationen hier] . Bei der gemischten Methode ist die Verteilung unterverteilt, d.h. zu stark abweichend von der zu erwarteten Verteilung. Dies ist jedoch durch die sehr geringe Anzahl von Beiträgen aus dieser Gruppe begründbar (siehe Abbildung 10). Ansprechpartner: Dr. Frank Kauker (Alfred-Wegener-Institut)
Quellen
Zhang, J.; Lindsay, R.; Schweiger, A.; Steele, M. (2013) The impact of an intense summer cyclone on Arctic sea ice retreat , Geophysical Research Letters, 40, 720-726, DOI: 10.1002/grl.50190
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