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Mögliche Ursachen der Rekordniedrigwerte der Meereisausdehnung in der Antarktis im Winter 2023

Das Jahr 2023 markierte einen Wendepunkt für die antarktische Region, da sie einen erheblichen Rückgang ihrer Meereisausdehnung erlebte.

  • Die Meereisausdehnung in den Polargebieten sind Indikatoren für den Zustand der Eisentwicklung und die Auswirkungen der Klimaerwärmung in den hohen Breiten.
  • In den letzten etwa acht Jahren verzeichnen wir auch in der Antarktis eine deutliche Abnahme der Eisausdehnung insbesondere im Südsommer.
  • Neben den regionalen atmosphärischen Bedingungen beeinflussen auch großskalige Zirkulationsmuster die Meereisbildung.

In einer aktuellen Studie beleuchtet die Klimatologin Dr. Monica Ionita (AWI) die Treiber hinter diesem außergewöhnlichen Ereignis durch die Kombination von Beobachtungs-, Satelliten- und Reanalysedaten, mit besonderem Augenmerk auf die großräumige atmosphärische Zirkulation.

Die Meereisausdehnung in den beiden Polargebieten zum Zeitpunkt des Wintermaximums oder Sommerminimums sind Indikatoren für den Zustand der Eisentwicklung und die Auswirkungen der Klimaerwärmung in den hohen Breiten. Während wir in der Arktis seit vielen Jahren einen abnehmenden Trend der Meereisausdehnung im Sommer von circa 11,9 % pro Dekade und im Winter von etwa 2,3 % pro Dekade feststellen und eine sogenannte „Arktische Verstärkung“ der Klimaerwärmung in drei- bis vierfacher Stärke des globalen Mittels diagnostizieren, ist die Eisausdehnung in der Antarktis seit Beginn der kontinuierlichen Satellitenbeobachtungen nahezu konstant geblieben oder sogar einem leichten Wachstum unterworfen. Erst in den letzten etwa acht Jahren verzeichnen wir jedoch auch in der Antarktis eine deutliche Abnahme der Eisausdehnung insbesondere im Südsommer gegenüber dem langjährigen Mittel, mit einem Rekordniedrigwert im Winter letzten Jahres.

Das Jahr 2023 markierte einen Wendepunkt für die antarktische Region, da die südliche Hemisphäre einen erheblichen Rückgang ihrer Meereisausdehnung erlebte, mit einem rekordverdächtigen Meereisminimum im Juli 2023 von etwa 2,4 Millionen Quadratkilometern unter dem langjährigen Durchschnitt. Doch was sind die Treiber dieses Rekordwinters gewesen und hat hiermit möglicherweise eine mögliche grundlegende Veränderung der klimatischen Verhältnisse (ein sogenannter Regimeshift) in der Antarktis begonnen? Mit dieser Frage hat sich Monica Ionita, Klimawissenschaftlerin und Klimatologin am Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven in einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung beschäftigt, in der sie möglichen Ursachen auf den Grund gegangen ist. In ihrer Studie beleuchtet Monica Ionita die Treiber hinter diesem außergewöhnlichen Ereignis durch die Kombination von Beobachtungs-, Satelliten- und Reanalysedaten, mit besonderem Augenmerk auf die großräumige atmosphärische Zirkulation.

 

Meereisportal: Monica, du beschäftigst dich in deiner Forschung mit der Auswertung klimatologischer Zeitreihen, insbesondere von atmosphärischen Parametern. Was sind nach deiner Analyse die wichtigsten Faktoren, die die Meereisbildung in der Antarktis im Jahr 2023 beeinflusst haben und wie außergewöhnlich war das Jahr 2023 gegenüber früheren Jahren?

Monica Ionita: 2023 war ein ganz besonderes Jahr, denn es gab ein Zusammenspiel von Faktoren, die zu den extrem niedrigen Meereiswerten in der Antarktis führten. Im Vergleich zu früheren Jahren, wie 2016, hatten wir 2023 „Stressfaktoren“ sowohl aus der Atmosphäre in Form eines sehr welligen atmosphärischen Musters, das die Advektion von Wärme und Feuchtigkeit aus den niedrigen Breiten in Richtung der Meereiskante erleichterte, als auch aus dem Ozean. Wir hatten also sowohl einen Top-Down- als auch einen Bottom-Up-Ansatz, wenn ich das mal so sagen darf. Das Wasser in den Schichten unter dem Meereis war ebenfalls extrem warm, das Wasser um den Meereisrand herum war so warm wie nie zuvor und dann der Zustrom warmer und feuchter Luft, sie alle wirkten in die gleiche Richtung: die Begrenzung der Meereisbildung.

Abbildung 1: (A) Tägliche Anomalie der Meereisausdehnung für die Jahre 2014 (blaue Linie), 2016 (orange Linie), 2022 (grüne Linie) und 2023 (rote Linie); (B) Monatliche Anomalie der Meereisausdehnung im Zeitraum 1979 - 2023. Rot zeigt negative Anomalien an, blau schattiert sind positive Anomalien der Meereisausdehnung; (C) Rangfolge der monatlichen Meereisausdehnung im Zeitraum November 1978 - August 2023. Dunkelrot zeigt die Monate mit rekordverdächtig geringer Meereisausdehnung an. In (A) und (B) wurden die Anomalien relativ zur klimatologischen Periode 1981 - 2010 berechnet. Einheiten: (A) und (B) [106 km2]. (Quelle: Ionita, 2024)

Meereisportal: Ausgenommen von den Monaten März und April haben alle Monate bis Oktober 2023 jeweils ein Rekordminimum in der monatlichen Eisausdehnung gezeigt. Was hat den Ausschlag dafür gegeben und welche Regionen sind hier besonders betroffen?

Monica Ionita: Die außergewöhnlich niedrige Meereisausdehnung von Mai bis August 2023 wurde hauptsächlich durch das Vorherrschen eines zonalen Wellenmusters Nummer 3 (ZW3) verursacht, das durch abwechselnde Hoch- und Tiefdrucksysteme an der Oberfläche gekennzeichnet war und die Advektion von Wärme und Feuchtigkeit begünstigte, insbesondere über dem Rossmeer (RS), dem Weddellmeer (WS) und dem Indischen Ozean (IO). Die anomale großräumige Zirkulation wurde von rekordverdächtigen Temperaturen der Meeresoberfläche und darunterliegender Schichten bis 100 m Tiefe über den Regionen mit geringerer Meereisausdehnung begleitet. Zusätzlich zu den Luft- und Ozeantemperaturen wurden extreme Wärme-, Feuchtigkeits- und fühlbare Wärmeströme beobachtet, insbesondere über dem WS, RS und IO, die den Rückgang der Meereisausdehnung über diesen Gebieten noch verstärkten. Insbesondere über dem Weddellmeer wurden von Mai bis Juli 2023 Anomalien der Lufttemperatur von bis zu 8°C und der Meeresoberflächentemperatur von bis zu 3°C beobachtet. Ähnliche Temperaturanomalien wurden über dem Rossmeer gemessen, insbesondere im Juli und August 2023. Im Allgemeinen sind bestimmte Regionen, wie das Ross- und das Weddellmeer, aufgrund ihrer geographischen Lage und der Interaktion von ZW3 mit anderen atmosphärischen und ozeanischen Prozessen besonders empfindlich gegenüber ZW3-Schwankungen. Dies war zum Beispiel auch im Jahr 2023 und 2016 der Fall. Im Allgemeinen beeinflusst das ZW3-Muster den Wärmeaustausch zwischen dem Ozean und der Atmosphäre. Die Advektion warmer Luft kann die Wärmeübertragung von der Atmosphäre auf den Ozean erhöhen, was zu wärmeren Meeresoberflächentemperaturen und einer verzögerten Meereisbildung führt.

Abbildung 2: Anomalien der Meereisausdehnung (SIE) (linke Spalte) und der Meeresoberflächentemperatur (SST) (rechte Spalte) im Jahr 2023 für: (A) und (B) Mai, (C) und (D) Juni, (E) und (F) Juli und (G) und (H) August. Die Anomalien werden im Verhältnis zum Zeitraum 1981 - 2010 berechnet. IO: Indischer Ozean, PO: Westlicher Pazifischer Ozean; WS: Weddellmeer; RS: Rossmeer und ABS: Amundsen-Bellingshausen-See. Einheiten: SIE [%] und SST [°C]. (Quelle: Ionita, 2024)

Meereisportal: Neben den regionalen atmosphärischen Bedingungen beeinflussen auch großskalige Zirkulationsmuster die Meereisbildung. Welche Zirkulationsmuster haben Einfluss auf die Meereisbildung in der Antarktis und was hat sich hier in den letzten Jahren verändert?

Monica Ionita: Es gibt verschiedene regionale und großräumige atmosphärische und ozeanische Muster, welche die Entwicklung der Meereisbildung in der Südlichen Hemisphäre beeinflussen. Wir haben einerseits das Southern Annular Mode (SAM) – das vorherrschende Zirkulationssystem in der Südlichen Hemisphäre, was durch Veränderungen in der Stärke und Position des Westwindgürtels, der die Antarktis umgibt, gekennzeichnet ist. Eine positive SAM-Phase korreliert mit stärkeren Westwinden, was zu einer erhöhten Meereisausdehnung durch windgetriebenen Eisdrift und einer verstärkten Abkühlung des Oberflächenwassers führen kann. Eine negative SAM-Phase hingegen kann zu einer reduzierten Meereisausdehnung durch schwächere Winde und wärmere Lufttemperaturen führen. Ein weiteres wichtiges großräumiges Zirkulationssystem ist das El Niño-Southern Oscillation (ENSO), was durch Veränderungen in der atmosphärischen Zirkulation und im Wärmeaustausch zwischen Ozean und Atmosphäre Telekonnektionen zur Antarktis haben kann. El Niño-Ereignisse sind in der Regel mit einer erhöhten Meereisausdehnung in den westpazifischen und Rossmeer-Sektoren verbunden, während La Niña-Ereignisse zur reduzierten Meereisausdehnung in diesen Regionen führen können. Es gibt auch weitere regionale atmosphärische Muster, die das Meereis in der Südlichen Hemisphäre beeinflussen können, wie das Amundsen Low, der Pacific-South American Mode und natürlich das ZW3-Muster. Ein Grund für die Jahren mit niedrigen Meereisausdehnungen seit 2016 könnte damit zu tun haben, dass bei manchen Mustern die Stärke zugenommen hat, was zu verstärkten negativen Meereisanomalien führte. Die Persistenz und erhöhte Stärke dieser Muster führte 2023 zu einer außerordentlichen Situation über weite Teile der Südlichen Hemisphäre, wobei die durchschnittliche Lufttemperatur auf 2 m Höhe, Meeresoberflächentemperatur, fühlbare Wärmeströme, Feuchtigkeit und Meereisausdehnung beispiellose Ausmaße erreichten, vor allem über dem Rossmeer und Weddellmeer.

Abbildung 3: Differenz in der meridionalen Windanomalie auf 500 hPa zwischen 2023 und 2016 für den Monat Mai. Die schwarzen Pfeile zeigen die Windrichtung auf 500 hPa.

Meereisportal: Warum stellt diese Studie nach deiner Meinung einen besonderen Blickpunkt auf die Klimaentwicklung in der Antarktis dar?  

Monica Ionita: Auch wenn unsere Publikation sich vorwiegend auf die atmosphärischen Bedingungen in 2023 konzentriert, ist es wichtig zu betonen, dass solche Studien unentbehrlich sind, um die spezifischen Eigenschaften solcher Ereignisse zu verstehen. Unsere Arbeit bietet einen Blickwinkel „von oben” (z. B. die großräumigen atmosphärischen Treiber) als Pendant zur Publikation von Purich und Doddridge (2023), die hauptsächlich auf die ozeanischen Treiber der extrem niedrigen Meereisausdehnung in 2023 fokussiert ist. Leider hat es in den letzten Jahren quer durch das Klimasystem so viele Extreme gegeben, dass es uns Wissenschaftler:innen manchmal schwerfällt, mit den jüngsten Entwicklungen Schritt zu halten und fundierte wissenschaftliche Erklärungen für diese zu finden.

Meereisportal: Was ist für die zukünftige Entwicklung des antarktischen Meereises zu erwarten und hat sich bereits eine grundlegende Veränderung etabliert, indem die Auswirkungen der globalen Klimaveränderungen nun auch bis in die Antarktis vorgedrungen sind?

Monica Ionita: Insgesamt ist das Jahr 2023 aus klimatischer Sicht ein Alarmzeichen und ein Weckruf für unser Verständnis der Polarregionen der Erde und des komplizierten Zusammenspiels zwischen Klimawandel und seinen Folgen. Während verschiedene Studien weiterhin das komplexe Geflecht von Faktoren entschlüsseln, die zum jüngsten, dramatischen Rückgang der antarktischen Meereisausdehnung beigetragen haben, müssen die politischen Entscheidungsträger und die Gesellschaft als Ganzes diese Entwicklungen unbedingt zur Kenntnis nehmen und die dringende Notwendigkeit kollektiver Maßnahmen erkennen, um die treibenden Kräfte des Klimawandels schnellstmöglich abzuschwächen und die empfindlichen Ökosysteme der Polarregionen zu schützen. Die Ereignisse des Jahres 2023 erinnern uns eindringlich an die tiefgreifenden und weitreichenden Auswirkungen des Klimawandels auf die entlegensten und ursprünglichsten Regionen unseres Planeten.

Meereisportal: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Publikation: Monica Ionita (2024): Large-scale drivers of the exceptionally low winter Antarctic sea ice extent in 2023, Front. Earth Sci., Sec. Cryospheric Sciences, Vol. 12, https://doi.org/10.3389/feart.2024.1333706.

 

Kontakt

Dr. Monica Ionita (AWI)

Dr. Renate Treffeisen (AWI)

Dr. Klaus Grosfeld (AWI)

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